Zitat:
Er wunderte sich darüber, wieviel ihm diese Flamme bedeutete und wie sehr er sie behütete. Als er bei Regen durch die libanesische Berge zog, versteckte er sich in Höhlen. Einmal wäre er beinahe erfroren. Die Kerze versteckte er in einem sarazenischem Grab, denn er wollte das Reisigholz nicht an ihrer Flamme entzünden, um sich zu wärmen. Und als er schon zu erfrieren drohte, traf der Blitz einen Baum in der Nähe und steckte ihn in Brand. So kam er zu Feuer, ohne die heilige Flamme dafür verwenden zu müssen.
Schließlich wunderte er sich nicht mehr. In der Nähe von Nikäa stieß er auf mehrere orientalische Ritter, unter denen sich auch ein bekannter Ritter und ein Troubadour befanden. Als sie Raniero verkehrt im Sattel sitzen erblickten, im schäbigen Mantel, mit einem Stoppelbart und der Kerze in der Hand, begannen sie, wie er es schon gewohnt war, zu rufen: «Verrückter! Verrückter!» Aber der Troubadour gab ihnen ein Zeichen zu schweigen. Dann ritt er zu Raniero und fragte ihn, wie lange er schon auf dem Weg sei. «Von Jerusalem an, Herr» antwortete Raniero demütig.
«Ist dir die Flamme unterwegs nicht ausgegangen?» - «Auf meiner Kerze brennt dieselbe Flamme, die ich damals am Grabe Christi entzündete», antwortete Raniero. Daraufhin sagte der Troubadour: «Auch ich will ein Ideal hochhalten. Auch ich bin einer von denen, die eine Flamme tragen... Deshalb wünsche ich mir, daß sie ewig brennt. Sag du mir, der du dein Licht sogar von Jerusalem her trägst, was muß ich tun, daß meine Flamme nicht erlischt?»
«Herr», erwiderte darauf Raniero, «das ist ein schwieriges Unterfangen, obgleich es unbedeutend erscheint. Denn diese kleine Flamme verlangt von Ihnen, daß Sie ihr Ihre ganze Aufmerksamkeit schenken und an nichts anderes mehr denken. Sie erlaubt Ihnen nicht, eine Geliebte zu haben, wenn Sie solchen Dingen zugetan sind.
Um dieser Flamme willen dürfen Sie nicht einmal wagen, sich zu einem vergnügten Tisch zu setzen. Sie dürfen nichts anderes im Sinn haben als eben diese Flamme, und keine andere Aufgabe darf ihnen wichtiger sein. Der Grund, daß ich Sie von einem ähnlichen Entschluß abhalten möchte, ist der, daß sie niemals sicher sein können, ob es ihnen überhaupt gelingen wird, diese Flamme ans Ziel zu bringen. Keinen Augenblick lang dürfen sie glauben, sicher zu sein. Vielmehr müssen sie darauf gefaßt sein, daß Ihnen im nächsten Augenblick die Flamme entrissen werden kann.» Dies war die Antwort Ranieros.
Zu Ostern kam Raniero in Florenz an. Jetzt am Ziel angelangt, mußte er die größten Leiden überhaupt erdulden. Sobald er durch das Stadttor geritten war, sprangen Lausbuben und Landstreicher auf, liefen dem Pilger mit lautem Geschrei nach und versuchten, ihm die Kerze auszulöschen. Raniero hob seine Flamme in die Höhe, um sie vor dem bösen Pöbel zu schützen, der ihn mit Mützen bewarf und mit voller Kraft in die Richtung der Kerze blies. Ranieros Aussehen war wie das eines Barbaren. Er erhob sich im Sattel, um die Flamme zu beschützen. Eine Frau entriß ihm von einem niederen Balkon aus die Kerze und eilte mit ihr ins Haus. Alle lachten und brachen in Jubel aus, denn Raniero verlor im Sattel das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Im Nu löste sich die Menge wieder auf.
In diesem Moment kam Francesca, Ranieros Frau, mit der brennenden Kerze in der Hand aus dem Haus. Sie war diejenige gewesen, die ihm vom Balkon aus die Kerze entrissen hatte, in der Absicht, sie zu retten. Als der Schein der Kerze auf Ranieros Gesicht fiel, fuhr er hoch und öffnete die Augen. Francesca gab ihm die Flamme zurück, aber er erkannte sie nicht, denn er blickte sie nicht an, er starrte nur auf die Flamme. Raniero wollte die Kerze in die Domkirche bringen. Francesca half ihm in den Sattel.
Raniero trat nun mit der Flamme in den Dom ein. Bald erfuhr das Volk, daß der Ritter Raniero de Ranieri aus Jerusalem mit der Flamme, die er am Grab Christi in Jerusalem entzündet hatte, eingetroffen war. Doch dann erhoben sich Stimmen des Zweifels, besonders von jenen Menschen, denen Raniero früher durch seine Brutalität Schmerz zugefügt hatte. Sie verlangten Beweise dafür, daß Raniero diese Aufgabe wirklich erfüllt hätte.
Raniero erschrak, denn damit hatte er nicht gerechnet. «Wen soll ich als Zeugen vorladen?» fragte er sich. «Kein Schildträger wollte mit mir gehen. Wüsten und Berge sind meine Zeugen.»
In der Kirche entstand Aufruhr, und Raniero geriet in Angst, daß man ihm in der Nähe des Altars die Flamme auslöschen könnte. In diesem Augenblick fiel ein Vogel auf die Kerze, der durch das offene Kirchentor hereingeflogen war. Die Flamme erlosch. Raniero verlor den Mut, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Die Menschen in der Kirche schrien auf, da die Flügel des Vogels in Brand geraten waren. Er flattertete verzweifelt umher, bis er verbrennend auf den Altar fiel. Aber bevor das Feuer auf seinen Flügeln erlosch, gelang es Raniero noch, seine Kerze an der erlöschenden Flamme wieder zu entzünden. Das war der Beweis, der verlangt worden war.
Gedanken zu dieser Geschichte: Der Ritter hat sich für die Flamme, die er am Grabe Christi entzündet hat, begeistert, und nichts war ihm zu schwierig, diese Flamme ständig zu behüten, um sie in seine Heimat zu bringen. Deshalb gab es kein Hindernis mehr, welches er nicht hätte bewältigen können. Wenn es ihm selbst nicht gelang, haben sich die Dinge ohne sein Zutun für ihn gelöst, denn er hatte eine gute, edle Absicht. Es war nicht schwer für ihn, sich von der Ritterkleidung und von der Kriegsausrüstung zu trennen. Er nahm alles auf sich, damit er die Flamme ruhiger und sicherer zum Ziel bringen konnte. Als die äeren Anfechtungen in bezug auf materielle Dinge aufhörten, begannen die Anfechtungen von innen: Der alte Stolz, seine früheren Freunde, die nicht an die Echtheit seiner Aussage glaubten oder die in für verrückt erklärten. Doch zuletzt wendete sich für ihn alles zum Guten.